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Von der Herrfurthstraße aus fahre ich morgens aufs Tempelhofer Feld – mit dem Fahrrad, um möglichst viel vom Klangmobile mitzunehmen. Ich halte am Eingang, öffne die Website und drücke auf »Start«. Mir wird eine Karte des Tempelhofer Feldes angezeigt mit unzähligen kleinen, größeren und sehr großen grünen Kreisen – die, wie ich vermute, jeweils andere Sounds »enthalten«. Sie sind über das gesamte Feld verteilt, oft auf den großen Landebahnen und asphaltierten Wegen, aber auch auf kleinen Trampelpfaden, alten Bahnschienen und Wiesen. Ein kleiner roter Punkt zeigt meinen Standort an. Langsam faden erste Klänge ein: Glocken aus der Ferne im Wechsel oder Duett mit einer Kirchenorgel mit viel Hall. Beides würde man so zusammen nie hören (die Glocken sind ja draußen und die Orgel drinnen), trotzdem wirkt der Zusammenklang ganz »natürlich« und schafft mit der Sonne auf der grünen Wiese und den Feldlerchen, die mich von außen durch die Kopfhörer erreichen, den Eindruck der perfekten ländlichen Idylle. Im Hintergrund treiben, ebenfalls mit viel Hall, tiefe, elektronische Rhythmusfetzen, die an Donner erinnern, aber die Szenerie nicht trüben. Langsam fahre ich über die Wiese von einem Soundspot in den nächsten, viele überlagern sich auch. Meine ursprüngliche Erwartung, dass jeder Soundspot einen völlig eigenen Klang hat und Verlassen und Betreten der Spots damit deutlich hörbar sind, bewahrheitet sich nicht. Die Veränderungen sind oft subtil und manchmal gar nicht wahrnehmbar. So entstehen bei meiner Tour lange Bögen, groß angelegte Formen, in die ich schnell völlig versinke. Als ein kurzes Rhythmus-Loop aus einem eher zischenden, scharfen elektronischen Klang plötzlich deutlich in den Vordergrund tritt und mich aus der pastoralen, heimeligen Stimmung reißt, wirkt das wie ein kleiner Schock. Solche radikalen Brüche sind bei FELD_ allerdings eher selten.

Ein weiteres verbindendes Element neben den Übergängen von Soundspot zu Soundspot ist die Bratsche, die auf dem ganzen FELD_ immer wieder zu hören ist. Manchmal steht sie solistisch im Vordergrund, für sich alleine, oder über oder mit Klangräumen, elektronischeren Passagen oder anderen Instrumenten; mal im Hintergrund; oft auch im Zusammenspiel mit sich selbst durch Kombination mehrerer Aufnahmen. Der Klang ist mal grundtonlastig-vollklingend, mal sehr obertonreich oder gezupft. Ich vermute, dass die Bratsche noch sehr viel öfter Teil der Klanglandschaft ist, als ich es überhaupt bemerke, da ihr Klang zum Teil stark bearbeitet ist.

Im eher westlichen Bereich der nördlichen Landebahn des FELD_es zum Beispiel hüpfen erst Bratschen-Pizzicati über einen Teppich aus gleißenden, scharfen und gleichzeitig bedrohlich grummelnden elektronischen Sphären-Klängen, dann nähert sich die Bratsche dem gleißend scharfen Klang immer mehr an und beides wabert durcheinander und zwischen meinen Ohren hin und her. Dazwischen höre ich eine Polizei-Sirene, von der ich erst sehr spät merke, dass sie Teil des Klangmobiles ist. Die Bratschenstimme wird gesanglicher, wischt durch lange sonore Glissandi. In der Nähe des alten Flughafengebäudes kommen außerdem die Geräusche startender Flugzeuge dazu, fast halte ich am Himmel nach ihnen Ausschau. Noch eindrücklicher ist diese klangliche Schein-Realität beim aufgenommenen Wind, bei dem ich mich einige Momente frage, aus welche Richtung er eigentlich kommt, bis ich merke, dass er mich nur aus den Kopfhörer heraus anweht.

Bei meinem zweiten FELD_Besuch lasse ich das Rad am Eingang stehen und laufe. So habe ich viel mehr Zeit, mich umzugucken. Und auf dem Tempelhofer Feld gibt es unglaublich viel zu sehen, besonders wenn es so voll ist wie an diesem Abend. Meine Augen finden zu jedem Klang, den ich höre, im Getümmel eine visuelle Entsprechung. Am östlichen Ende der Landebahn klingen erst Geräusche wie kalter, scharfer aber merkwürdig tonaler Wind aus den Kopfhörern. Dazu kommt plötzlich eine lustig-groovige Melodie aus elektronischem Piepsen und Fiepsen, die die Skater*innen, die auf Rollschuhen, Inlineskates, Longboards oder jeder erdenklichen anderen Form von Gefährt auf kleinen Rädern um mich herumsausen, wie herumwuselnde Starwars-Androiden wirken lässt – R2D2 in hundertfacher Ausführung. Bei manchen blinken sogar die Rollen in verschiedenen Farben passend zur Musik.

Durch die Musik bin ich nicht abgelenkt, sondern schaue eher noch genauer hin und stelle den Fokus scharf auf Details, die zu dem passen, was ich höre. Zum Beispiel auf kleine Häuflein mit verschiedenfarbigen Eierschalen vor mir in der Wiese. Die Bratsche zupft dazu ganz schnell immer wieder denselben Ton, als würde sie auf jedes einzelne Stück Schale zeigen. So gucke ich mich viel um und nur sehr selten auf die Karte mit den GPS-Koordinaten. Wenn ich es doch einmal mache, lenkt die Karte oft meinen Gang, zum Beispiel hin zu einem Skatepark, wo viele Soundspots eine Art Blume bilden. Hier spielt die Bratsche alleine und ich verbringe einige Zeit damit, neben dem Skatepark hin und her zu laufen und mein persönliches FELD_Bratschensolo zu komponieren.

Weiter in Richtung Südosten höre ich plötzlich kleine Wellen seicht an ein Ufer schlagen. Wasser ist das einzige Element, dass auf der großen grünen Fläche des Tempelhofer Feldes mit seinen vielen Grill-Feuern und eigentlich immer starkem Wind sonst wirklich fehlt. Vor über 100 Jahren gab es auf dem heutigen FELD_ mal einen Badesee, den Schlangenpfuhl. Auch bei der Diskussion um die Weiternutzung des stillgelegten Flughafengeländes Anfang der 2010er Jahre stand der Vorschlag der Flutung als Badesee im Raum. Die Idee wurde allerdings fallengelassen.

Diese Wasserklänge habe ich wieder im Ohr, als ich das nächste Mal in südöstlicher Richtung auf dem FELD_ unterwegs bin, diesmal allerdings ohne Klangmobile, sondern zum Joggen. Genau wie die »Robotoren-Musik«, die in meinem Kopf erklingt, als ich laufend zwischen den Skater*innen hindurchkurve. Der aufmerksamere FELD_Blick bleibt, so merke ich, erhalten. Auch ohne Kopfhörer.

von Merle Krafeld

30.06.2021